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Bioscope – Gentō | vinyl-keks.eu
Bioscopes „Gentō“ ist kein einfaches Debütalbum, sondern ein cineastisches Statement – ein Soundtrack für den Kopf, der zeigt, dass Progressive Rock und Berliner Schule nicht nur nebeneinander existieren, sondern ineinander verschmelzen können.“
Zwei Klangwelten verschmelzen …
Was passiert, wenn man zwei Künstler aus völlig unterschiedlichen Klangwelten zusammenbringt? Der eine, Steve Rothery, steht seit über vierzig Jahren für epische, emotionale Gitarrenarbeit bei Marillion, einer Band, die Progressive Rock für Generationen neu definiert hat. Der andere, Thorsten Quaeschning, prägt als Kopf von Tangerine Dream die Elektronikmusik – hypnotisch, minimalistisch, filmisch. Zwei Universen, zwei Ästhetiken, zwei Traditionen. Eigentlich Welten, die man für inkompatibel halten könnte.
Doch genau hier liegt die Spannung. Und genau hier setzt Bioscope an. Gemeinsam mit Alex Reeves am Schlagzeug – bekannt durch seine subtile, aber präzise Arbeit für Elbow – schufen sie ein Album, das mehr ist als ein musikalisches Experiment. „Gentō“ ist ein Klangdialog, ein offenes Gespräch zwischen Gitarre, Synthesizer und Drums, das wie ein Film funktioniert: Kapitel für Kapitel, Szene für Szene.
Und die Frage, die uns alle bewegt: Kann so eine fragile Kombination wirklich funktionieren – oder bleibt sie am Ende bloß eine hübsche Idee?
Bioscope in a nutshell
Bioscope entstand während einer Session 2020 in Berlin. Rothery und Quaeschning lernten sich kennen, spürten sofort eine gemeinsame Wellenlänge. Was folgte, waren Jahre der Entwicklung: Ideen austauschen, Skizzen entwerfen, Fragmente aufnehmen. Ein Prozess, langsam, geduldig, fast meditativ. 2025 schließlich nahmen sie als Bioscope die Stücke in Rotherys Studio in Südwestengland auf und formten daraus das Album, das wir jetzt hören: „Gentō“.
Der Name ist Programm. „Gentō“ ist japanisch für Laterna Magica – jenes Projektionsgerät aus dem 17. Jahrhundert, mit dem Bilder auf Wände geworfen wurden. Ein Sinnbild für das, was auch diese Musik tut: Sie wirft Bilder in unseren Kopf, projiziert Stimmungen, ohne ein einziges Wort zu benutzen.
Wo sich Prog und Elektronik umarmen
Das Album ist keine plumpe Fusion. Es ist eine Spurensuche: Was passiert, wenn man die lyrische Emotionalität einer Gitarre mit der kalten, klaren Strenge elektronischer Strukturen verbindet?
- Rothery liefert warme, melancholische, bisweilen hymnische Melodien. Sein Ton ist klar, tragend, voller Pathos.
- Quaeschning baut darunter weite Soundflächen, moduliert Sequenzen, erschafft endlose Tiefe und Raum.
- Reeves setzt gezielt Akzente, hält sich oft zurück, kommt aber dann mit einer scharfen rhythmischen Linie ins Spiel, die den Tracks Kontur gibt.
Das Ergebnis ist keine Überladung, kein Bombast. Im Gegenteil: „Gentō“ ist ein Album der Räume. Jeder Ton hat Platz, jede Stille Bedeutung. Manchmal schwebend wie Ambient, manchmal rhythmisch treibend wie Krautrock, manchmal hymnisch wie klassischer Prog.
Die Klangreise – ein Blick ins Logbuch
- „Vanishing Point“ (Pt. I–III)
Ein Triptychon, das wie eine Mini-Symphonie funktioniert.
- Teil I: leises Pulsieren, ein zurückhaltender Sequenzer, zarte Gitarrenlinien, die wie Nebel über einem Fluss schweben. Alles wirkt fragil, fast transparent.
- Teil II: Die Spannung steigt. Die Drums setzen ein, zunächst vorsichtig, dann fester. Rotherys Gitarre wächst, zieht Linien wie Sonnenstrahlen durch dunkle Wolken. Es entsteht eine emotionale Verdichtung.
- Teil III: Entspannung. Die Musik zieht sich zurück, bleibt meditativ, lässt den Hörer in Stille ausklingen. Ein dramaturgisch kluger Aufbau, wie eine Eröffnungsszene eines Films, die uns sofort in die Handlung hineinzieht.
- „Gentō“ (Titeltrack)
Hier zeigt sich das Herzstück des Albums. Der Titeltrack ist kein Song, sondern eher ein Raum aus Klang.
Die Gitarre verliert hier ihre führende Rolle, sie verschmilzt mit den Synthflächen, wird Teil des Gesamtgewebes. Das Stück hat etwas Schwebendes, Entrücktes – wie ein Traum, der sich nicht greifen lässt. Genau in dieser Reduktion liegt seine Stärke: „Gentō“ zwingt uns, zuzuhören, genauer hinzuhören. Es ist kein Track für den schnellen Konsum, sondern einer, der Zeit braucht, um sich zu entfalten.
- „Kaleidoscope“
Nach so viel Schwerelosigkeit plötzlich: Struktur! Rhythmus! Ein klarer Song, beinahe poppig in seiner Direktheit.
Hier treten Gitarrenriffs in den Vordergrund, die fast tanzbar wirken. Reeves liefert einen straighten Beat, der Song wirkt frisch, hell, optimistisch. Der Titel ist Programm: wie ein Kaleidoskop brechen sich Melodien und Farben, verschieben sich Muster, alles bleibt in Bewegung. Ein perfekter Kontrapunkt zu den längeren, ambienthaften Stücken – und zugleich ein Ohrwurm.
- „Kinetoscope (Pt. I & II)“
Auch hier steckt der Name voller Geschichte. Das Kinetoskop war ein früher Filmbetrachtungsapparat, ein Vorläufer des Kinos. Passend dazu klingt dieser Track wie ein musikalischer Film.
- Teil I: hell, flirrend, mit leichten Synthesizer-Arpeggien, die fast wie Filmprojektoren klicken.
- Teil II: dunkler, dichter, getrieben von Drums und basslastigen Synthesizern. Die Gitarre bleibt schneidend, kantig, wie ein Kommentar zur Handlung.
Ein Stück voller Dynamik, das zeigt, wie Bioscope Spannung aufbauen können, ohne jemals in Kitsch oder Überladenheit zu verfallen.
Warum Gentō so besonders ist
Man könnte sagen: „Das ist Musik für Prog-Nerds.“ Oder: „Das ist nur etwas für Ambient-Liebhaber.“ Aber das würde dem Album nicht gerecht werden.
Gentō ist universell. Es ist nicht Musik zum Mitsingen, sondern Musik zum Erleben. Sie verlangt Aufmerksamkeit, aber sie belohnt reichlich. Jeder Track ist wie ein Kapitel in einem Buch, das man nicht weglegen will.
Das Album ist durchzogen von einer stillen Dramaturgie. Man spürt, dass hier zwei Künstler auf Augenhöhe zusammenarbeiten, sich gegenseitig Raum geben. Rothery drängt sich nie in den Vordergrund, Quaeschning überfrachtet nie mit Synth-Lawinen. Stattdessen herrscht ein stiller Dialog – mal melancholisch, mal euphorisch, mal rätselhaft.
Funktioniert die fragile Kombination?
Also zurück zur Frage: Kann diese fragile Kombination wirklich funktionieren?
Die Antwort lautet: Ja – und wie!
„Gentō“ ist kein zufälliges Experiment, sondern ein durchdachtes, cineastisches Werk. Es schafft es, zwei Welten zu vereinen, ohne Kompromisse, ohne Verlust. Die Gitarrenmelodien malen, die Synthflächen rahmen, die Drums strukturieren – und am Ende bleibt ein Album, das mehr ist als Musik: ein Film für die Ohren.
Unbedingte Hörempfehlung für die Nacht
- Kopfhörer auf.
- Licht aus.
- Augen zu.
- Lass dich fallen.
Denn „Gentō“ ist kein Album zum Hören nebenbei. Es ist eine Einladung, die Welt für eine Stunde auszublenden – und in ein anderes Universum einzutreten. Wer bei ARD alpha bei Zeiten der „Space Night“ folgt, ist hier mehr als richtig!
Vinyl ist für mich nicht nur Musik, sondern ein Erlebnis. Die von mir beschriebenen Alben, habe ich alle ausgepackt, angeschaut und angehört. Gerne auch mehr als ein Mal. Bei den Reviews mache ich mir immer ein eigenes Bild durch entsprechende Recherche und das konzentrierte Anhören. Das ist meine Art den Künstlern entsprechende Wertschätzung für ihre Kreativität und Kunst entgegenzubringen.
So kann es vorkommen, dass zum Zeitpunkt des Erscheinens, die Platten in seltenen Fällen vergriffen sind.
Dazu gibt es für mich keine Alternative: über Platten schreiben, in dem man die Pressetexte abschreibt ohne die Platte in den eigenen Händen gehalten zu haben, macht für mich keinen Sinn. Danke für euer Verständnis. Lagartija Nick.