Sports

Warum sich kriminelle Clans immer öfter in der Provinz ausbreiten

Published

on

Die Scheiben sind groß, daran kann es also nicht liegen. Wer im „Renas-Grill“ sitzt, am Rand der Stader Altstadt, hat einen ausgezeichneten Blick auf alles, was draußen passiert. Und auch wer hinter der Theke arbeitet, das Fleisch vom Döner-Spieß schneidet oder Salat in das Fladenbrot stopft, dem kann eigentlich nichts Wichtiges entgehen. Schon gar nicht, wenn draußen auf der Straße ein Mann einem anderen mit voller Wucht ein Messer in den Kopf rammt.

Weiterlesen nach der Anzeige

Weiterlesen nach der Anzeige

Umso erstaunlicher ist es, was sich an einem Donnerstag Ende Februar im Schwurgerichtssaal des Landgerichts Stade zuträgt. Fünf Männer sind als Zeugen geladen, die alle im „Renas-Grill“ arbeiteten und schildern sollen, was sich elf Monate zuvor, am 22. März 2024, direkt vor den Fenstern zugetragen hat.

Der Erste ist Abdul, 20 Jahre alt, Syrer, ein Dolmetscher übersetzt seine Worte.

Einen Streit habe er draußen wahrgenommen, laute Gespräche, dann einen Polizeiwagen. Dann sei er nach unten gegangen.

Weiterlesen nach der Anzeige

Weiterlesen nach der Anzeige

„Ich konnte nicht viel sehen“, sagt Abdul.

Der Zeuge erinnert sich nicht

„Haben Sie Messer oder Schlagstöcke gesehen?“, will der Vorsitzende Richter Erik Paarmann wissen.

„Nein, ich erinnere mich nicht“, beteuert Abdul.

Das habe auf einem Überwachungsvideo aus dem Restaurant aber ganz anders geklungen, entgegnet der Richter. „Das verwundert jetzt schon.“

Aber Abdul bleibt dabei. Kein Messer, kein Stich, nichts bemerkt.

Weiterlesen nach der Anzeige

Weiterlesen nach der Anzeige

Der Zweite ist Alran, 26 Jahre alt.

Eine Schlägerei habe er gesehen, Geschrei gehört, sonst nichts. Kein Messer.

Sie können doch nicht sagen, Sie wüssten gar nicht, worum es geht. Das ist doch Quatsch.

Erik Paarmann,

Vorsitzender Richter, zu einem der Zeugen

„Sie müssten eigentlich von der Salattheke einen guten Blick gehabt haben“, hält ihm Richter Paarmann vor.

Alran wippt mit dem Fuß, kaut an seinen Fingernägeln. Und erinnert sich nicht.

Beim dritten Zeugen endet allmählich Paarmanns Geduld. „Sie können doch nicht sagen, Sie wüssten gar nicht, worum es geht“, grollt der Richter. „Das ist doch Quatsch.“

Weiterlesen nach der Anzeige

Weiterlesen nach der Anzeige

Aber es geht so ähnlich weiter, auch bei den Zeugen vier und fünf.

Fünf Männer mit Gedächtnislücken

Es ist natürlich möglich, dass bei den fünf jungen Männern plötzlich die Erinnerung versagt. Es kann aber auch sein, dass die überraschende Amnesie mit den Männern aus den beiden Familien zusammenhängen, die ebenfalls im Gerichtsaal sitzen, den Miris und den Al-Zeins. Und damit, dass jeder, der sich genauer erinnert, unvermeidlich auf die Seite einer der beiden Familien schlägt – und mit der anderen womöglich ein Problem bekommt.

“Neid. Und Hass”: Der Angeklagte Mustafa M. zwischen seinen Anwälten im Gerichtsaal.

Was an jenem 22. März 2024 passiert ist, haben die 18 Prozesstage zuvor schon weitgehend geklärt. Erst haben die Al-Zeins an jenem Tag das Sportgeschäft eines Miri-Mitglieds in der Stader Innenstadt überfallen. Dann haben die Miris aus Rache ein Wohnhaus der Al-Zeins heimgesucht. Woraufhin die Al-Zeins wiederum vor dem Renas-Grill ein Auto der Miris rammten.

Was dann losbricht, nennen Zeugen eine „Straßenschlacht“. In ihrem Verlauf rammt mutmaßlich der 34-jährige Mustafa M. dem ein Jahr älteren Khaled R. das Messer in den Kopf. Als habe man einen 43 Kilogramm schweren Block aus einem Meter Höhe auf den Kopf fallen lassen, so hat es der Rechtsmediziner Benjamin Ondruschka vom Universitätsklinikum Eppendorf rekonstruiert, mit solcher Wucht habe der Täter zugestoßen. Einen „massiven Vernichtungswillen“ folgert der Mediziner am zehnten Prozesstag daraus und sagt: „Ich habe so etwas in meinem ganzen Berufsleben noch nicht gesehen.“

Weiterlesen nach der Anzeige

Weiterlesen nach der Anzeige

Auf offener Straße getötet: Todesanzeige für das Opfer Khaled R. in den sozialen Netzwerken.

In einer Vernehmung bei der Polizei hat Mustafa M. die Tat gestanden. Für ihn geht es nun vor allem um die Strafe. Darum, ob er von hinten zugestochen hat, heimtückisch – das wäre Mord. Oder ob er einem anderen Familienmitglied zu Hilfe eilte – das wäre es womöglich Totschlag.

Für die Zeugen geht es wahrscheinlich um etwas anderes. Um die Angst vor den Männern, denen sie täglich auf der Straße wieder begegnen könnten.

Stade ist eine mittelgroße Stadt zwischen Hamburg und Cuxhaven, knapp 50.000 Menschen leben hier. Es gibt viel Fachwerk, alte Kaufmannshäuser, den Schwedenspeicher neben dem Hansehafen. Die Unterelbe und das Alte Land sind nicht weit, bis Harburg braucht die S-Bahn eine halbe Stunde.

Kein Brennpunkt

Als „Clan“-Stadt, als Hochburg von Großfamilien mit türkisch-arabischen Wurzeln und kriminellen Strukturen, gilt Stade nicht. 52 Fälle von Clankriminalität weist die polizeiliche Kriminalstatistik im Jahr 2023 für die Stadt aus, bei 4600 Straftaten insgesamt. Neuere Zahlen gibt es bisher nicht. „Trotz leicht ansteigender Tendenz“ in den vergangenen Jahren zeichne sich der Bereich „nicht als ein herausragender Brennpunkt aus“, teilt das Landeskriminalamt Niedersachsen mit.

Weiterlesen nach der Anzeige

Weiterlesen nach der Anzeige

Alles normal in Stade, soll das heißen. Durchschnitt. Die Frage ist nur, ob das eigentlich eine gute Nachricht ist. Oder ob diese Form der Normalität doch eher sehr bedrückende Züge trägt.

Der Mord an Khaled R. im März 2024 war nicht der erste im Clan-Milieu in der Stadt. Drei Fälle gab es in den vergangenen drei Jahren. Sie haben nichts miteinander zu tun, sagt die Polizei. Aber zu den fast makabren Zufällen gehört, dass sich der erste 2022 genau in jenem Restaurant zutrug, von dem man jetzt so einen guten Ausblick auf den jüngsten Tatort hatte. Ein Gast erschoss einen Mitarbeiter.

Schaufenster voller Shisha-Pfeifen

Dem Mord, um den es in dem Prozess jetzt geht, ging ein Streit um die Preise von Shisha-Tabak voraus, vordergründig jedenfalls. Die eine Familie, Al-Zein, betreibt in der Fußgängerzone seit Langem ein Geschäft. Es liegt gegenüber einem italienischen Eis-Café, die Schaufenster sind zweistöckig mit Wasserpfeifen dekoriert, sodass man kaum hineinsehen kann.

Geschäft einer der Familien in der Stader Innenstadt: An Prozesstagen sind die Mitglieder im Gerichtssaal.

An Prozesstagen bleibt das Geschäft zu, „aus privaten Gründen“, steht auf einem Schild an der Tür. Die Al-Zeins sind dann im Gerichtssaal.

Weiterlesen nach der Anzeige

Weiterlesen nach der Anzeige

Als ein Miri-Mitglied in seinem Sportgeschäft ein paar hundert Meter weiter ebenfalls Shisha-Pfeifen anbot, verstanden die Al-Zeins das als Kampfansage. „Wir hatten kaum eine Anzeige für Vapes gepostet“, eine E-Pfeife, sagt ein Bruder von Khalid R., des Opfers, in einer Pause des Prozesses, „haben die schon die nächste gebracht und uns um einen Euro unterboten.“ Er klingt noch immer zornig, als er das erzählt.

Fachwerk-Idylle: Die Straße in der Stader Innenstadt, in der eine der Familien ihr Geschäft hat.

Aber das, sagt er auch, war nur der Anlass. „Es gab ja auch Buchholz.“ Dort, 50 Kilometer entfernt, lief es ein paar Monate zuvor andersherum: Die Miris hatten einen Shisha-Shop – und die Al-Zeins ein neues. “

Und das war der Grund? Nein, sagt der Bruder. Die wahren Gründe lägen tiefer. Und zwar? „Neid. Und Hass“, sagt er und zuckt mit Schultern, als könne er es auch nicht genauer erklären.

Dafür, dass die Familien mit den Shisha-Geschäften auch das Revier für andere Geschäfte markierten, dafür lieferte der Prozess keinen Hinweis. Khaled habe sich seit 15 Jahren nichts zuschulden kommen lassen, beteuert der Bruder. „Und wir auch nicht.“

Die sogenannten ‚Clans‘ verlagern ihre Aktivitäten zunehmend auch in kleinere Städte, ländliche Regionen und strukturschwache Räume.

Mahmoud Jaraba,

Universität Erlangen-Nürnberg

Weiterlesen nach der Anzeige

Weiterlesen nach der Anzeige

Klar ist, dass die Entwicklung in Stade einen Trend verdeutlicht. Clankriminalität war bislang ein Phänomen in bekannten Zentren, vor allem Bremen, Berlin und dem Ruhrgebiet. Zuletzt jedoch, erklärt Mahmoud Jaraba von der Universität Erlangen-Nürnberg, „verlagern die sogenannten ‚Clans‘ ihre Aktivitäten zunehmend auch in kleinere Städte, ländliche Regionen und strukturschwache Räume“. All das geschehe zumeist kaum sichtbar für die Öffentlichkeit – „solange es nicht zu eskalierenden Gewalttaten kommt, wie im Fall von Stade“.

Die Aufmerksamkeit von Polizei, Politik und Medien sei in diesen kleineren Städten und Gemeinden weit geringer, oft würden entsprechende Phänomene nicht als Clankriminalität erkannt. „Dabei handelt es sich mitunter um genau dieselben Familien oder verwandtschaftlich eng verbundene Gruppen, die auch in den bekannten Hochburgen aktiv sind“, betont Jaraba. In der Provinz bieten sich ihnen ungeahnte neue Möglichkeiten, im Autohandel, in der Gastronomie, mit Sicherheitsdiensten.

Der Konflikt dauert an

Wie weit der Friede unter den Clans in Stade heute reicht, ein Jahr nach dem Mord, ist nicht klar. Es sei alles ruhig, erklärt die örtliche Polizei knapp, ein ausführlicheres Gespräch lehnt sie ab. In dem Sportgeschäft, das einst den Miris gehörte, sitzt ein neuer Betreiber. Nur Sportsachen, etwas Kleidung, keine Shisha, versichert er.

Doch den Konflikt gibt es weiter. Als der Prozess im November beginnt, stehen sich Männer beider Familien vor dem Gericht gegenüber, bewacht von Dutzenden Polizisten in Schutzmontur. Am Tag zuvor kursierten Drohungen in den Netzwerken. Als der Angeklagte eintritt, Mustafa M., ruft ihm die Witwe des Opfers quer durch den Saal Flüche entgegen.

Inzwischen sind die Zuschauerreihen an den Prozesstagen längst gelichtet. Die Atmosphäre jedoch bleibt gereizt. Wer im Prozess zu den Männern auf den Zuschauerplätzen hinübersieht, wird von ihnen auch mitten in der Verhandlung laut zurechtgewiesen. „Guck weg!“, „Was willst du?“.

Weiterlesen nach der Anzeige

Weiterlesen nach der Anzeige

Mord unter den Augen der Polizei

Die Macht der Justizbeamten dagegen scheint begrenzt. Als es in einer Verhandlungspause laut wird, werfen sie nicht die Störer hinaus. Sondern weisen die Verteidigerin des Angeklagten darauf hin, dass die Männer sich durch ein angebliches Grinsen von ihr gestört fühlten.

Man kann das pragmatisch und deeskalierend nennen. Oder auch übertrieben defensiv.

Auch die Polizei genießt bei den Männern nur bedingt Respekt. Nach dem provozierten Autounfall vor dem Döner-Restaurant war sofort ein Streifenwagen angerückt. Der Mord fand unter den Augen der Beamten statt, den Täter hat es nicht abgehalten.

Momentan sei die Polizei noch gut genug aufgestellt, um kurzfristig auf die neuen Entwicklungen zu reagieren, sagt Patrick Seegers, der Landesvorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft. „Aber mittelfristig werden wir dafür deutlich mehr Personal brauchen.“ Wie es in Stade weitergeht, betont er, das werde auch davon abhängen, ob beide Familien das Urteil am Ende akzeptieren.

Weiterlesen nach der Anzeige

Weiterlesen nach der Anzeige

Das Gericht wird es im Juni wohl sprechen. „Wir wollen, dass der Täter seine gerechte volle Strafe erhält“, sagt der Bruder des Opfers, „deshalb bin ich hier.“

Was er tun wird, wenn das Urteil seine Erwartung nicht erfüllt – das sagt er nicht.

Leave a Reply

Your email address will not be published. Required fields are marked *

Trending

Exit mobile version